Braucht Vergebung immer Zeit?

Das ist der Ansatz der herkömmlichen Vergebung. Sätze wie „Zeit heilt alle Wunden“ „kennt bestimmt jeder. Leider stimmt das so nicht. Denn die alten Verletzungen werden im Idealfall vielleicht zu gut verheilten Narben. Meist jedoch schwelen die Themen im Untergrund und kommen dann in den ungünstigsten Momenten wieder zum Vorschein. Wenn ich etwa ein Thema mit meinem Vater oder meiner Mutter hatte (egal ob mir dies bewusst ist oder nicht) und es nicht gelöst werden konnte, dann zeigt sich dies wieder in meinen aktuellen Beziehungen. Häufig in den Liebesbeziehungen, weil uns diese Menschen am nächsten stehen und am ehesten unsere „Trigger“ auslösen. Wichtig ist zu verstehen, dass daran nichts falsch ist. Denn dadurch bekommen wir die Gelegenheit, uns unserer Themen bewusst zu werden und sie zu transformieren. Wir müssen also nicht jahrelang in unserer Vergangenheit wühlen, wie dies in der klassischen Therapie oft der Fall ist. Wir nehmen das, was sich jetzt zeigt, und indem wir Heilung in die aktuelle Situation bringen, heilen wir damit auch die Themen der Vergangenheit.

Wem hilft die Vergebung?

Vor allem uns selbst. Wir werden in unserem Inneren ruhiger, zufriedener und können immer mehr bewusst mit dem umgehen, was in unserem Leben geschieht. Denn auch wenn wir Meisterlnnen im Thema Vergebung sind, wird das Leben uns immer wieder neue Herausforderungen bieten, wir können dann einfach besser mit den Situationen umgehen. Und natürlich hat unser innerer Prozess auch eine Auswirkung auf unsere Beziehungen, auf das tägliche Miteinander. Unsere Kontakte werden authentischer, stimmiger und sind von mehr Freude erfüllt. Auch unser Gegenüber profitiert – egal ob bewusst oder unbewusst – davon, wenn wir ihn oder sie aus dem Bild des Täters oder Opfers entlassen und diese Person so sehen können, wie sie wirklich ist.

Gibt es Menschen, die einfach nicht vergeben können, selbst wenn es – in unseren Augen – kleinere Verletzungen sind?

Ja, das erlebe ich in meiner Arbeit auch immer mal wieder. Hier stelle ich gerne die Frage: „Wozu dient es dir, an dem alten Groll und Schmerz festzuhalten?“ In unserer Gesellschaft bekommen wir viel Aufmerksamkeit, wenn es uns schlecht geht, wenn wir das arme Opfer sind. Doch will ich wirklich die Aufmerksamkeit auf diese Weise erhalten? Wäre es nicht viel schöner, wenn ich mich am Leben erfreuen könnte und das Beste ausmeinem Leben machen könnte?

Kann man wirklich alles vergeben – auch Gewalttaten? Gibt es Geschehnisse, die Menschen nicht verzeihen können?

Das ist eine Frage, die immer wieder gestellt wird. Denn gerade bei schwerwiegenden Verletzungen, Gewalttaten oder Ungerechtigkeiten, die wir in der Welt sehen, ist es natürlich schwierig, darin einen Sinn zu sehen. Es ist das gute Recht jedes Menschen zu sagen: „Dieses Thema kann und will ich nicht vergeben.“ Wir sollten uns allerdings bewusstmachen, dass wir selbst am meisten leiden, wenn wir daran festhalten. Zu vergeben ist auch ein Akt der Selbstliebe. Um schwer-wiegende Themen zu bewältigen, braucht es einen geschützten, vertrauensvollen Rahmen und kompetente Begleitung. Dann haben wir die Voraussetzungen. um unser eigenes Energiefeld zu klären, unser Leben wiederbewusst zu gestalten und diese Klarheit und Liebe auch in die Welt strahlen zu lassen.

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Dieses Interview ist erschienen in der Ausgabe No. 15 der Zeitschrift „I AM“ (Malina Seiler). April 2023
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