Beitrag aus dem HERZSTÜCK-Magazin 5/2023

„Ich vergebe” − diese Worte gehen uns nicht leicht über die Lippen. Dabei sind sie so wichtig für uns.

Denn wenn wir Groll, Wut und Schmerz in unserem Herzen tragen,
schaden wir vor allem uns selbst.

Unsere Heilung geschieht durch Vergebung. Und wir können
lernen, jene Themen zu erkennen, die uns triggern, und sie zu transformieren.

Auch wenn es manchmal schwer ist und wir es uns kaum vorstellen können, weil wir mitten in einer schwierigen Situation stecken: Wir haben eine Wahl. Wollen wir jahrelang im „Opferland“ bleiben, leiden und schmollen? Und uns in unserem Schmerz, unserer Wut und unserer Trauer einrichten (denn das liebt unser Ego)? Oder wollen wir aktiv entscheiden, kein Opfer mehr zu sein und aus dem Jammertal aufzutauchen? Wir könnten natürlich auch weitere Jahre vergehen lassen und hoffen, dass wir irgendwann großherzig genug sind, vergeben zu können. Oder wir nehmen eine Abkürzung, öffnen uns für Veränderung und probieren die radikale Vergebung aus. Diese leicht anwendbare, aber wirksame, psychospirituelle Methode hat Colin C. Tipping (1941–2019) ursprünglich für Krebspatienten entwickelt, denen nicht mehr viel Zeit blieb, um in ihrem Leben aufzuräumen und inneren Frieden zu finden.

Doch wer war Colin Tipping? „Er war ein bescheidener Mann, liebenswert, authentisch, ehrlich, pragmatisch und konnte sehr gut zuhören“, erzählt Hina Fruh, die ihn 2005 in Amerika kennenlernte und seine Methode in Deutschland bekannt machte (siehe Interview). Er stammte aus einer Londoner Arbeiterfamilie, arbeitete als Lehrer und Kunst-Dozent für Holzarbeit in England, bevor er 1984 in die USA ging, um ganz neu anzufangen. Dort machte er eine Ausbildung zum Hypnotherapeuten und entwickelte ein Arbeitsblatt, mit dem bis heute erfolgreich gearbeitet wird. Als Anleitung dazu entstand sein Buch „Ich vergebe: Der radikale Abschied vom Opferdasein“. Darin zeigt er, wie wir in kurzer Zeit mehr Ruhe und Klarheit in schwierigen Situationen finden und es schaffen, sie in inneren Frieden und Ausgeglichenheit zu verwandeln. Und wie wir die Opferrolle verlassen, zur Selbstliebe finden und ins Tun kommen.

BIST DU BEREIT?

Alles, was wir dafür brauchen, ist eine Bereitschaft. Wir können es schaffen, mehr Abstand zu gewinnen, zur Seite zu treten und eine alternative Perspektive zuzulassen. Das heißt auch,einer höheren Macht zu vertrauen, dem Universum, dem Schöpfer oder dem göttlichen Plan, je nachdem, wie wir es nennen mögen. Denn: Vergeben ist aktives Handeln und ein sehr kraftvolles Werkzeug, um in die eigene Stärke und Autonomie zu kommen. Und um sich von der Vergangenheit, von traumatischen Erlebnissen oder von negativen Gefühlen zu befreien, die uns lähmen und limitieren.

Was so toll und radikal daran ist? Wir müssen nicht verstehen, wie es funktioniert. Jeder und jede kann es, wir brauchen keine besonderen Fähigkeiten und kein spirituelles Vorwissen. Wir können es einfach tun. Oder auch erst mal nur so tun als ob. Ein Schritt baut auf dem anderen auf. Die drei Säulen der radikalen Vergebung sind: annehmen was ist, Gefühle akzeptieren (auch die negativen) und in den Frieden kommen. Wenn wir versuchen, alles mit unserem Verstand zu analysieren, bleiben wir oft irgendwo stecken. Aber wenn wir uns auf unsere spirituelle Intelligenz verlassen, spüren wir schnell, wie sich die Energie verändert und es leichter wird. Denn unser höheres Selbst sagt immer zu allem Ja, was uns guttut – weil es uns liebt und weil es weiß, warum wir auf dieser Erde sind.

ICH GEBE DEM WUNDER RAUM

„Die Situation, die mir zu schaffen macht, stellt sich gegenwärtig so dar …“, lautet Punkt 1 auf dem Arbeitsblatt (Download unter www.tipping-methode.de). So beginnt jeder Prozess der radikalen Vergebung. Denn das Geschehene ist eine Geschichte, die wir uns erzählen. Eine Story, die uns sehr beschäftigt und quält, aber eben nur eine Geschichte. Das zu erkennen, ist der erste, entscheidende Schritt. Unser Storytelling ist „der Ort, wo der Schmerz wohnt“, so Colin Tipping. Deshalb hilft es auch sehr, unsere Geschichte und unsere Gefühle aufzuschreiben oder sie laut auszusprechen. Um sie dann zu transformieren und – wie durch einen anderen Filter – neu zu betrachten.

Frust und Wut lassen sich etwa sehr gut durch Bewegung und Stimme freisetzen: Also ruhig mal mit dem Nudelholz auf ein Kissen hauen und dem Ärger laut Luft machen! „Um etwas zu transformieren, müssen wir es vollständig erfahren und so lieben, wie es ist“, sagt Colin Tipping. Wir müssen lernen zu akzeptieren, dass wir mitgestalten. Dabei geht es nicht darum, dass wir unsere Gefühle unterdrücken oder ignorieren. Wir müssen zunächst bei uns selbst ankommen und ganz ehrlich mit uns sein. Aber gleichzeitig dürfen wir uns auch für eine neue Perspektive öffnen, damit Veränderung stattfinden kann. Wir können daraus etwas lernen. Und wenn wir Menschen begegnen, über die wir uns aufregen oder an denen wir uns reiben, dürfen wir genauer hinsehen und versuchen zu erkennen, was uns in diesem Moment triggert.

Gerade die Menschen, die uns am nächsten stehen und die uns am meisten lieben, fordern uns oft stark heraus – etwa unsere Familienmitglieder oder Partner. Sie sind wie Spiegel und können intensive Gefühle in uns auslösen. Auf unseren Lebenspartner, unsere Familie und engsten Freunde projizieren wir gern Aspekte unserer Persönlichkeit, mit denen wir nicht so gut klarkommen. Diese Muster werden sich möglicherweise in einer Dauerschleife wiederholen (wenn wir Pech haben auch mit dem nächsten Liebespartner oder der nächsten Partnerin), bis wir es irgendwann schaffen, sie zu lösen. „Doch jedes Mal, wenn wir uns in einer Situation, ob persönlich verwickelt oder nicht, entscheiden, das Vollkommene an der Situation zu sehen, verändern wir die Energie schlagartig“, schreibt Colin Tipping.

„Wir wachsen in unseren Beziehungen. Sie heilen uns und machen uns wieder ganz. Andere Menschen helfen uns, Unterdrücktes bewusst zu machen und so zu heilen.“ Wenn wir uns das klarmachen und es schaffen, die Projektionen aufzuheben, dann entspannt sich meistens auch unser Gegenüber. Wenn wir die Energie verändern, verändern sich andere mit. Es ist wie ein Tanz. Konflikte lösen sich auf, das Kriegsbeil kann wieder begraben werden.

Wenn wir bereit sind anzunehmen, dass die Menschen, die wir treffen, unsere Seelengefährten sind, können wir überlegen, was ihre Mission in unserem Leben ist: Wollen sie uns zeigen, dass wir gut genug sind? Dass wir keine Angst haben brauchen, verlassen zu werden? Dass wir geliebt werden? Dass wir stark sind?

ICH VERGEBE MIR SELBST

Speziell einer Person können wir oft nur sehr schwer vergeben: uns selbst! Mit uns selbst gehen wir besonders hart ins Gericht: „Wir fühlen uns schuldig oder schämen uns, wir verurteilen uns permanent und machen uns runter“, sagt die Therapeutin Hina Fruh. In ihrem Buch „Die Kraft der Selbstvergebung“ zeigt sie uns praktische Übungen und heilsame Rituale (siehe Kasten links). Mit der Tipping-Methode können wir auch mit uns selbst und unserer inneren Kritikerin Frieden schließen – eine entscheidende Voraussetzung für ein glückliches Leben und sogar für unsere Gesundheit.

Denn ein Mangel an Vergebung könne uns auch körperlich belasten und sogar die Ursache von Krankheiten sein, so die Erkenntnis von Colin Tipping. Krankheit, das hat der Experte beobachtet, beginnt zunächst im spirituellen und im emotionalen Körper, die immer am verletzlichsten sind, und manifestiert sich irgendwann später im physischen Körper. Eine Ursache kann etwa sein, wenn wir traumatische Situationen, intensiven Streit oder überwältigende Gefühle erlebt haben, die wir nicht verarbeiten konnten. Deshalb rät er auch, bei schweren Traumata und Lebenskrisen unbedingt Unterstützung bei einem Coach zu suchen.

Vergebung beginnt immer im Kleinen, bei uns selbst und bei unseren Nächsten. Aber sie kann auch im Großen wirken. Wir können das Prinzip der radikalen Vergebung ebenso auf die Ereignisse der Welt anwenden. Und je mehr Menschen das tun und ihre Energie verändern, desto größer sind die Kreise, die der Frieden zieht.

Nathalie Schwaiger

Befreie Dein Herz, Radikale Vergebung nach Colin Tipping, HERZSTÜCK Ausgabe 5, 2023 (PDF zum Download)

*